Zu Fuß von Hamburg zur Nordsee

 

Das Mädchen neben mir im Fernbus nach Hamburg ist 11 Jahre alt. „Such dir mal einen freien Platz – am besten neben der Dame!“, hatten ihr die Eltern am Busbahnhof in Braunschweig aufgetragen. Mit „Dame“ war ich gemeint. Das Mädchen reist allein  - nach Soltau zu seinen Großeltern.

 

Nachdem wir die wichtigsten Fakten über Job und Schule ausgetauscht und uns gegenseitig auf dem Smartphone gezeigt haben, wo wir wohnen, zieht sie einen halbfertigen aus Holz gebauten Flipperautomaten aus der Tasche. „Den habe ich im Phaeno angefangen und will ihn nun mit meinem Opa zu Ende bauen!“

 

Ich finde das cool! Und sie findet cool, was ich vorhabe: Mit dem Rucksack zu Fuß von Hamburg an der Elbe entlang bis zur Nordsee laufen.

In Hamburg bleibe ich zunächst 2 Tage und übernachte  in meinem Lieblingshotel an der Außenalster, nur wenige Meter von „Udo“ entfernt. Ich liebe dieses Hotel und den grandiosen Blick auf die Alster!

Hier absolviere ich ein zugegebenermaßen relativ eindimensionales Touristenprogramm: St. Pauli (Kiez und Stadion), Dom (der Rummel ist rie-sen-groß!), Schanzenviertel, St. Georg, lasse Miniaturwunderland wegen der 75 Minuten Wartezeit dieses Mal aus, genieße Pool und Whirlpool im Hotel und schone ansonsten meine Füße. Schließlich kommt in den nächsten Tagen noch einiges auf sie zu, außerdem hatte ich zuletzt Probleme mit Ballen und Zehgelenken, war damit sogar kurz vor Antritt meiner Reise beim Arzt. Ich hoffe, sie halten durch!

 

Start Hamburg Altona

 

Es geht los! Ich bin sehr gespannt auf den Weg. Ich werde den Elbe-Rad-Wanderweg laufen. Werde mir also einen Radweg mit Fahrradfahrern teilen müssen. Wie stressig wird das sein? Habe mir auf jeden Fall vorgenommen, immer auf der linken Seite des Radweges zu laufen, damit ich keine Radler im Rücken, sondern die mir entgegenkommenden Radfahrer im Blick habe.

 

In Hamburg-Altona steige ich an der Elbe in den Weg ein. Es regnet in Strömen! Aber ich und mein Rucksack sind wasserdicht verpackt.

 

Der Weg ist überraschend wunderbar! Sehr idyllisch, geradezu malerisch zwischen Elbe und hübschen Anwesen! Hin und wieder kommen mir vereinzelte Hundebesitzer mit ihren Tieren beim Gassigehen entgegen, ansonsten tote Hose auf dem Weg. Ein Fahrradweg ist das ohnehin nicht, die Radler müssen woanders an der Straße einen deutlich weniger attraktiven Weg fahren.

Hinter Blankenese und nach auffällig vielen freundlichen Kontakten auf der Strecke erreiche ich den Campingplatz Elbstrand. Auf den bin ich schon sehr gespannt! Ich habe nämlich gerade das Buch von Bruni Prasske „Mein Wohnwagen und ich“ gelesen. Die Protagonistin ist Autorin, entflieht für einen Sommer der Großstadt Hamburg und zieht in einen Wohnwagen auf genau diesem Campingplatz. Er ist genauso charmant-chaotisch, wie in dem Buch beschrieben. Irre verlottert, teilweise. Vor der deutschen Kleingärnter-Spießigkeit hat sich dieser Campingplatz offenbar bisher sehr erfolgreich verstecken können.

 

 

Wedel

 

Ich erreiche mein heutiges Etappenziel Wedel, checke fix im Hotel ein und mache mich auf zum berühmten Willkomm-Höft, das sich nur wenige Minuten von meiner Unterkunft entfernt befindet.

 

Am Willkomm-Höft werden alle vorbeifahrenden Schiffe, die eine Mindestgröße aufweisen, begrüßt beziehungsweise verabschiedet, indem die Nationalhymne des entsprechenden Schiffes gespielt wird. Die Musik kommt aus dem Fährhaus, in dem man auch vorzüglich essen kann.

Ich belege einen Fensterplatz und sehe mich um. In einer hinteren Ecke steht in einer Art Aquarium (ohne Wasser) ein Offizier mit weißem Hemd und imposanten Schulterklappen, schaut in einen Computer und drückt Knöpfe. Hinter ihm ein Regal mit alten Musikcassetten. Heute werden die Hymnen digital abgespielt, versichert er mir und posiert freundlich für ein Foto. Dann muss er aber auch schon wieder ran: Das nächste Schiff naht. „Sie haben Glück“, ruft er mir noch zu, während ich wieder zurück zu meinem Platz gehe, wo mein Essen serviert wird.

Und tatsächlich! Über Lautsprecher gibt der Mann die wichtigsten Eckdaten über das nächste in Kürze eintreffende Schiff bekannt – ich merke mir davon nur: AIDA!

 

Und da schiebt sie sich auch schon würdevoll ins Bild, der Offizier läuft sogar nach draußen und winkt („Wir kennen uns!“).

 

Dann kommen nur noch langweilige Containerschiffe und ein „Katamaran“ genanntes Schiff, das von seinem Tagesausflug von Helgoland zurückkehrt.

 

Der Abend im Willkomm-Höft ist das Highlight des Tages! Eine schöne, alte Tradition. Durch die vielen unterschiedlichen Nationalhymnen erwacht in mir außerdem ein wohliges Fußball-WM-Gefühl.

 

Waschtag im Hotel

Zurück im Hotel nehme ich erfreut zur Kenntnis, dass die Heizung geht. Das ist immer wieder eine Freude für die Wanderin, denn: Ich kann große Wäsche machen! 

 

Mein angegriffener Ballen schmerzt leider bereits nach der ersten Etappe. Zu einem so frühen Zeitpunkt meiner Wanderung will ich kein zu großes Risiko eingehen: Ich werde die morgige Etappe nach Kollmar abkürzen müssen. Ich habe 25 Kilometer und damit 6 Stunden vor der Brust – das wäre zu viel für meinen nervenden Ballen.

 

Kollmar

 

Am nächsten Tag tut mir nicht nur der Ballen, sondern auch das entsprechende Zehgelenk weh, unter dem anderen Fuß habe ich eine fiese Blase. Von den 25 Kilometern will ich höchstens 10 oder 12 laufen und den Rest mit dem Bus fahren. An der Rezeption erkundige ich mich nach Möglichkeiten. Und habe Pech! Weil Schulferien sind, fahren keine Busse! Jedenfalls nicht von einem Nest in ca. 10 bis 12 Kilometern aus. Nur direkt von meinem heutigen Aufenthaltsort direkt nach Kollmar, meinem nächsten Etappenziel. „Wir sind hier auf dem Dorf“, so die Rezeptionistin schulterzuckend. Auch die Option, erstmal loszulaufen und – falls der Fuß nicht mehr mitspielt – nach der Hälfte der Strecke ein Taxi zu nehmen, zieht nicht. „Da gibt es keine Taxen. Nur Deich und Schafe!“

 

Ich gebe zähneknirschend auf. Den Fuß kaputtmachen gleich zu Beginn der Tour – das will ich nicht. Also fahre ich mit Bus und Taxi über Elmshorn nach Kollmar und fühle mich sehr schlecht dabei.

Warum es Kollmar überhaupt gibt – das weiß ich nicht. Dort ist nichts! Es gibt nur einen kleinen Tante-Emma-Laden, der aber geschlossen hat. Am … „Hafen“ … stehen einige Getränke- und Imbissbuden herum – alle geschlossen. Wir haben August, Hochsaison!

 

Um wenigstens überhaupt noch ein wenig zu laufen, latsche ich ein wenig durchs Dorf und lande außerhalb an einem Campingplatz. Auch dort hat die Bude geschlossen! Den Rückweg will ich über den Deich antreten – der allerdings ist übersät mit Schaf-Tretminen, die vom immer noch anhaltenden Dauerregen völlig aufgeweicht sind.

Also wieder über die Straße zurück. Immerhin passiere ich zwei Kulturpunkte: Eine zum Bücherschrank umfunktionierte Telefonzelle und eine Art Ausstellung einer sehr alten Boje, die man hier einmal gefunden hatte, und um die herum man einige Infotafeln aufgebaut hat.

 

Mir fiel bereits auf dem Hinweg ein weißer Transporter mit polnischem Kennzeichen auf, der durch die Straßen am herausgestellten Sperrmüll vorbeijuckelte. Nun ist noch ein zweiter hinzugekommen. Beide cruisen unablässig durch die wenigen Straßen, nehmen immer wieder den immer gleichen Plunder in Augenschein, begegnen sich dabei auch und warten wohl auf ein Wunder.

Ein Wunder ist auch, dass sich das Hotel mit angeschlossenem Restaurant in dieser gottverlassenen Gegend halten kann. Im Restaurant ist aber allerhand los, sogar eine geschlossene Gesellschaft im Festsaal. Das Personal ist nett, der Blick auf die Elbe schön (der Katamaran aus Helgoland kommt wieder vorbei), das Essen gut und das Bett bequem. Und meinem Fuß geht es deutlich besser! Gute Nacht.

 

Glückstadt

 

Der Weg nach Glückstadt ist wunderschon und schnell erzählt: Elbe, Schafe, Tretminen, Landschaft, Naturschutzgebiet und schönes Wetter. Ohne besondere Vorkommnisse. Ich trabe vor mich hin und genieße den Weg, die Ruhe, die Natur, die Weite. Hier habe ich – anders, als zum Beispiel in Wäldern – überhaupt keine Angst, überfallen zu werden. Im Gegenteil: Alle Menschen, denen ich unterwegs begegne – meist Radwanderer – sind auffallend freundlich und hilfsbereit.

Bald sind die ersten Kräne des Glückstädter Hafens in Sicht. Um in die Stadt zu gelangen, muss ich eine kleine, wunderschön wild bewachsene Brücke überqueren und komme – immer noch am Hafen - an einer malerischen Häuserzeile an. Fast muss ich mich kneifen: Bin ich etwa bis Amsterdam gelaufen? Die Giebelhäuser jedenfalls sehen so aus wie jene an den Amsterdamer Grachten. Ein Hinweisschild klärt auf: Tatsächlich waren es einst Holländer, die diese Häuser gebaut hatten.

Zivilisation, Straßen, die ersten Autos – eine richtige Stadt! Mit Geschäften! Nach so viel Stunden Natur pur geradezu ein Erlebnis. Außerdem bin ich – wie in den letzten Tagen auch schon – gespannt, wie meine übers Internet gebuchte Unterkunft in Wirklichkeit aussieht. In diesem Fall erkenne ich das Haus am Marktplatz sofort wieder.

Im „Anno“ werde ich ausgesprochen herzlich empfangen. „Sind Sie mit dem Auto da?“, fragt eine junge Hotelangestellte. „Nein, zu Fuß“ entgegne ich und zeige meinen Rucksack. „Ich komme aus Hamburg und gehe bis Brunsbüttel.“ Jetzt gesellt sich eine zweite Hotelmitarbeiterin hinzu: „Zu Fuß? Das hatten wir noch nie! Mit dem Fahrrad: Ja, das kommt öfter vor. Aber zu Fuß? Nein.“ Die andere bestätigt: „Nein.“

Ich beziehe mein Zimmer mit Blick auf den schönen Marktplatz und laufe wieder los, um die Stadt zu besichtigen und etwas zu essen zu besorgen. Mit einem Döner in den Händen ziehe ich durch die malerischen engen Gassen, die sternförmig vom Marktplatz abgehen. Was für ein wunderhübsches Städtchen Glückstadt doch ist!

In einer Tourist-Info kaufe ich eine Karte der Region, die viel detaillierter ist als jene, die ich bisher benutzt hatte. Damit wäre mir die Pleite, dass ich von Wedel nach Kollmar fahren musste, nicht passiert. Denn mit dieser Karte hätte ich von vornherein diese Etappe in zwei Teilabschnitte unterteilt, die ich auch mit kaputten Füßen hätte bewerkstelligen können. Eine Übernachtungsmöglichkeit zwischen Wedel und Kollmar musste ich anhand meiner alten Karte ausschließen. Merke für die nächste Wanderung: Karten künftig immer direkt von den Tourist-Informationen vor Ort beziehen!

 

In einem Schaufenster hängt ein Plakat mit einer Luftaufnahme von Glückstadt. Ich studiere sie intensiv - und entdecke darauf: ein Freibad! Nur 10 Minuten vom Hotel entfernt! Ich schaue auf die Uhr: 16 Uhr. Das lohnt sich noch! Ich laufe zurück zum Hotel, schnappe Badeanzug, Handtuch und Lesestoff, ziehe kurze Zeit später einige Bahnen im Schwimmbecken und strecke mich anschließend bei schönstem Sonnenschein auf einer Rasenfläche zwischen Schwimmbecken und Elbe aus. So lässt sich’s leben! Jetzt müsste nur noch ein Kreuzschiff auf der Elbe vorbeifahren. Aber es kommt nur ein Containerschiff. Immerhin.

 

Gegen Abend verlasse ich das Schwimmbad Richtung Hafen. Bei meiner Ankunft hatte ich dort eine kleine Lokalität mit Außensitzplätzen gesehen. Vielleicht kann man da noch nett was trinken.

 

Ich lasse mich auf einer Holzbank nieder und beobachte die Leute. Ein Alt-Hippie kramt Taschen und Koffer aus einem klapperigen Auto und schleppt diese in eine Ecke der Kneipen-Terrasse. Es kommen noch ein, zwei solcher Typen dazu und kramen auch mit Gerätschaften herum, bauen etwas auf. Sind das Musiker? Spielt hier heute noch ne Band?

 

An meinen Tisch haben sich in der Zwischenzeit zwei nette Damen gesellt, mit denen ich schnell ins Gespräch komme. Sie haben sich extra heute hier verabredet, weil sie diese Band sehen wollen. Die fängt auch bald an zu spielen, und zu meinem Bier gesellt sich noch ein Cocktail. Am liebsten hätte ich jetzt auch noch was geraucht, denn die Band spielt Kiffermusik aus den Siebzigern.

 

Da ich hier aber keinesfalls versumpfen will, verabschiede ich mich von den Damen und mache mich auf den Heimweg. Am Kneipenausgang werde ich noch von zwei angetrunkenen Frauen angequatscht, eine sieht aus wie Cindy aus Marzahn und ist auch so gekleidet. Die andere ist schon 67, was man ihr keinesfalls ansieht, sie sieht top aus. Sie redet unablässig auf mich ein und macht ein Selfie von uns beiden und der Band. Sie will es mir zuschicken. Das wird allerdings nie geschehen.

 

Zurück in meinem Hotelzimmer denke ich an meinen großen Koffer, der gerade unterwegs nach Sylt ist. Nach Beendigung meiner Wanderung in Brunsbüttel will ich noch eine Woche auf der Insel dranhängen. Da brauche ich natürlich meine „Sylt-Sachen“.

 

Aber brauche ich die wirklich? Ich komme doch bereits seit Tagen mit meinen 8 kg zurecht. Was brauche ich denn auf Sylt, was ich nicht in meinem Rucksack habe? Regentage und Hitze habe ich mit dem Inhalt bewältigt, heute war ich sogar schwimmen, ich war in der Kneipe, habe getanzt. Ich fühle mich reich mit meinen Siebensachen. Ein Effekt, der sich immer nach einigen Tagen einstellt, wenn ich auf Wanderschaft bin. Schön!

 

Brokdorf

Von merkwürdigem Geklapper wache ich gegen 6 Uhr auf. Schieben die vom Restaurant um diese Uhrzeit schon die Stühle hin und her? Ein Blick aus dem Fenster gibt Aufklärung: Es ist Markttag! Die Marktbeschicker bauen ihre Stände auf. Was für ein charmanter Start in den Tag! Der Abschied von diesem niedlichen Städtchen fällt mir schwer. Glückstadt war das bisherige Highlight meiner Wanderung.

Nach dem Frühstück klaue ich am Buffet noch ein Ei für unterwegs, kaufe auf dem Markt eine Tüte Kirschen und mache mich auf den Weg.

 

Der Deich ist hier recht huckelig und schwer zu gehen. Schafe sind einmal mehr meine Wegbegleiter. Das AKW kann ich schon kurz hinter Glückstadt ausmachen. Wie ein Ufo liegt dieser fremdartige Gegenstand in der Landschaft.

 

Ich nähere mich einer großen Ziehbrücke, die gerade langsam heruntergelassen wird. Da muss ich rüber, um nach Brokdorf zu gelangen. Eine lange Autoschlange hat sich schon gebildet. Die Brücke muss also lange geöffnet gewesen sein. Wer weiß, wie lange sie unten bleibt? Vielleicht nur ganz kurz? Ich beginne, über den holperigen Deich zu rennen und schaffe es über die Brücke.

 

Am gegenüberliegenden Ufer steigt ein alter Mann von seinem Fahrrad und fragt, wohin ich möchte. „Nach Brokdorf! Ich weiß, ich muss diese Straße hier lang …“ – „Das denken viele“, entgegnet der freundliche Herr. „Und wissen nicht, dass sie da drüben weiter auf dem Deich – oder sogar vor dem Deich direkt am Wasser – fahren können.“ Er sagt „fahren“, weil auf der Strecke ja hauptsächlich Radwanderer unterwegs sind. „Herzlichen Dank für den Tipp!“ rufe ich dem Mann hinterher, der schon wieder auf sein Rad gestiegen und weitergefahren ist. Ich hätte diesen Weg tatsächlich nicht gefunden und wäre eine Weile an der Hauptstraße entlanggelatscht.

 

Zuerst raste ich aber unter einem Baum und esse das Ei und ein paar Kirschen. Es ist schon wieder ein sehr heißer Tag. Die Sonne auf der freien Strecke macht mir ein wenig zu schaffen, es gibt nirgends ein schattiges Fleckchen auf dem Deich. Ich schmiere mich noch mal dick mit Sonnencreme ein, ziehe ein dünnes langärmeliges Oberteil an und setze meinen hässlichen weißen Hut auf. Weiter geht’s.

 

Schafe, Schafe, Schafe, einige Containerschiffe und ein AKW. Das wird allmählich immer größer, dennoch kann ich die Entfernung kaum einschätzen. Wie groß ist ein Atomkraftwerk?

Plötzlich steht ein Typ in Schlips und Kragen auf dem Deich. Der muss zu den Einfamilienhäusern gehören, die hinter dem Deich stehen. Ich bitte ihn, ein Foto von mir zu machen („Der Rucksack muss mit drauf“) und plaudere ein wenig mit ihm. Er ist als Außendienstmitarbeiter viel unterwegs und kennt auch meine Heimatstadt Braunschweig.

 

Das AKW wächst und wächst, und als ich endlich davor stehe, finde ich es gespenstisch riesig! Aus dem Kraftwerk strömt Wasser direkt in die Elbe. An dieser Stelle stehen rund 10 Angler und  halten ihre Köder rein. Ich kann es nicht fassen. Sind die Fische hier besonders groß? Ich marschiere weiter, aber die Frage lässt mich einfach nicht los. Ich ärgere mich, die Leute nicht direkt nach ihrer Motivation gefragt zu haben.

 

Ich bin in Brokdorf angekommen, der Weg auf dem Deich wird belebter. Meine Füße schmerzen, wie jeden Tag, jetzt auch die Hüfte. Aber egal. Ich frage eine Frau, die ihren Hund ausführt, wie weit es noch bis zum Hotel Sell ist. „Am Schwimmbad vorbei, dann ist es nicht mehr weit!“ Ich horche auf: Schwimmbad! Merke ich mir.

 

Das Hotel Sell ist die einzige Übernachtungsmöglichkeit, die ich im Internet gefunden habe. So war es ja auch schon mit meiner Unterkunft in Kollmar. Glückstadt hatte da schon mehr zu bieten – zu Recht. Das ist ja auch eine richtige und schöne Stadt.

Das Hotel Sell liegt direkt am Deich. Vielleicht bekomme ich ja ein Zimmer mit Elbe-Blick? Aber es fängt schon mal damit an, dass die unfreundliche Mitarbeiterin meine Reservierung in ihrem Buch nicht findet. Es sei aber dennoch ein Zimmer frei, sie händigt mir einen Schlüssel aus.

 

Als ich das Zimmer betrete, trifft mich der Schlag! Es liegt im Erdgeschoss zum Hinterhof, ist kalt und dunkel. Die Einrichtung aus den Siebzigerjahren. Häkeldeckchen auf den Möbeln und  Ablagen. Röhrenfernseher mit Receiver, 2 Fernbedienungen, eine für den Röhrenfernseher und eine für den Receiver. Im Bett zeichnet sich unter dem Bettlaken eine Gummimatte gegen Durchpinkeln ab! Mir wird übel, und ich renne ins Badezimmer. Es ist mit hässlichem Blümchendekor gefliest. Ein Albtraum in Beige und Braun.

Und das Schlimmste: kein Netz!!!

Ich muss hier sofort wieder raus und komme erst dann zurück, wenn ich hundemüde bin! War nicht vorhin von einem Schwimmbad die Rede? Ich schnappe Badeanzug und Hotel-Duschtuch und laufe los. Der Ort scheint mehr oder weniger nur aus einer einzigen Straße zu bestehen, am Ende der Straße das Schwimmbad. Ich ziehe wieder meine Bahnen und breite anschließend das weiße Duschtuch des Hotels auf dem Rasen aus.

 

Nachdem ich einige Minuten darauf gelegen habe, ist es vollkommen durchnässt und schmutzig. Was für eine Sauerei! Das Handtuch ist hin. Der Rasen ist total feucht! Wie kann das sein? Seit Tagen scheint die Sonne! „Das ist hier Marschlandschaft“, klärt mich eine Einheimische auf. „Der Rasen trocknet nicht so schnell!“

 

Ich trete den geordneten Rückzug an und besichtige den Ort. Ob wohl noch Relikte der alten Revoluzzer-Anti-AKW-Bewegung  Ende der Siebziger zu finden sind?

 

Eine alte Kirche finde ich, der alte Dorfkern also. Und dann viel Neubauten, Ein-Familien-Bungalows. In einem dieser Gärten hängen auf einer Wäschespinne Trikots von einer Fußballmannschaft, weiße Schrift auf braunem Grund. Finde ich ziemlich witzig – trainiert hier vielleicht St. Pauli heimlich, von Kiebitzen unbeobachtet?

Ich schieße mit dem Handy ein, zwei Fotos und drehe mich um. Und blicke in die Handy-Kamera eines Typen, der in seinem Vorgarten steht und sein Handy auf mich gerichtet hat! „Haben Sie mich eben fotografiert?“, frage ich ungläubig. – „Ja. Sie fotografieren unsere Grundstücke!“ – „Ich bin Touristin – Touristen fotografieren!“ – „Und wir haben hier viele Einbrüche!“ – „Super Willkommenskultur! Da verirrt sich schon mal ein Tourist in dieses Kaff, und dann sowas!“ So langsam bin ich aber wirklich bedient von diesem Nest.

 

Allerdings ist das die erste negative Unterhaltung in den ganzen letzten Tagen. Ansonsten waren alle immer sehr hilfreich und freundlich.

Auf den Sieg!
Auf den Sieg!

Der Hunger treibt mich zurück zum Hotel Sell. Wenigstens haben sie da eine schöne Terrasse mit Elbblick, und ich hoffe einfach auf erträgliches Essen. Und auf Netz! Eintracht Braunschweig spielt heute gegen Bielefeld, die Spielberichterstattung möchte ich über das Fanradio im Internet verfolgen.

 

Und tatsächlich: Essen vorzüglich, Einracht Braunschweig gewinnt 2:0, und meine Mail an das Fanradio angesichts des Auswärtssiegs wurde auch gesendet: „Strahlende Grüße aus Brokdorf!“

Die größte Überraschung in Brokdorf bietet ausgerechnet das Restaurant-Klo! Ahnungslos stoße ich die Tür auf und finde im Vorraum ein unglaubliches Kästchen vor! Es enthält: eine Damenstrumpfhose, Papiertaschentücher, Haarspray, Haarklemmen, Zahnseide, einen Fächer, Deo, eine Nagelfeile, einen Kamm. Nahezu ein 5-Sterne-Angebot in einer 0-Sterne-Kaschemme. Ich kneife mich und entnehme ein paar Haarklemmen.

Trotzdem gehe ich mit einem blöden Gefühl ins Bett in diesem schrecklichen Zimmer. Vom früheren Revoluzzertum ist hier überhaupt nichts mehr zu spüren. Ein Vorgarten ist spießiger als der nächste.  Wahrscheinlich waren die Demonstranten damals schon lediglich  bürgerliche „Wutbürger“.

 

 

Brunsbüttel

 

Ich stehe eine Stunde früher auf als sonst, damit ich dieses schreckliche Hotel und diesen schrecklichen Ort so schnell wie möglich verlassen kann. Im Frühstücksraum treffe ich eine freundlich Fahrradfamilie – Vater, Mutter und zwei kleine Kinder – die die Tour in umgekehrter Richtung machen. So können wir uns gegenseitig einige Tipps in Hinblick auf Strecke und Sehenswertes geben.

 

Ich klaue wieder ein gekochtes Ei und checke aus. Allerdings nicht, ohne die junge Hotelmitarbeiterin in ein Gespräch über „Brokdorf gestern und heute“ zu verwickeln.

 

Da erfahre ich: Die Brokdorfer fahren total ab auf ihr AKW! Das Kraftwerk ist der Arbeitsplatz Nummer eins, es subventioniert das Bauland (aha!), es hat das Schwimmbad und die Sporthalle bezahlt, die Kinder haben freien Eintritt im Bad. „Gibt es vermehrte Krebsfälle?“, will ich wissen. „Nein. Alle, die hier Krebs bekommen, haben Lungenkrebs. Und den bekommt man ja nicht vom Kernkraftwerk. Davon bekommt man ja Leukämie. Und die hat hier keiner.“

 

Später auf Sylt wird mir eine ältere Hamburgerin erzählen: „Die Demonstranten damals, die wurden mit Bussen von Hamburg nach Brokdorf gefahren. Brokdorf war ein Dorf, da wohnten nur ein paar Bauern. Die Massen an Demonstranten kamen woanders her.“

 

Das schlimme Zimmer kostet relativ wenig, somit verlasse ich einigermaßen versöhnt diesen trotzdem sehr, sehr seltsamen Ort.

 

Gestern Abend war Waschtag, aber die Klamotten sind in diesem dunklen, kalten Zimmer nicht trocken geworden. Also habe ich sie heute Morgen mit Wäscheklammern am Rucksack befestigt. Zurück auf meinem vertrauten Deich erspähe ich einen alten Bekannten: Der Katamaran nach Helgoland ist auch schon wach.

Fast unmerklich führt mich mein Weg immer weiter von der Elbe weg – und irgendwann ist sie plötzlich einfach nicht mehr da! Ich laufe entlang einer Landstraße auf ein Industriegebiet zu und bin unglücklich, dass ich mich nicht von meiner Elbe, meinem Deich, meinem Weg verabschieden konnte. Und dann steht da auf einem gelben Ortsschild: Brunsbüttel.

Um zum Ortskern zu kommen, muss ich mit einer Fähre fahren. Überraschenderweise ist die Überfahrt kostenlos!

 

Das Hotel mitten in der Fußgängerzone ist entspannend angenehm – puh!

Die „City“ scheint aus einer einzigen Einkaufsstraße zu bestehen. Highlight von Brunsbüttel sind die Schleusen, die die Verbindung von Nord-Ostsee-Kanal und Elbe herstellen. Und so wird auch jedes zweite Geschäft nach den Schleusen benannt: Schleusen-Schlachter, Schleusen-Bäcker, Schleusen-Apotheke. Auch meine Unterkunft heißt Schleusen-Hotel.

 

Es ist ein sonniger Nachmittag, und so beschließe ich, zum kleinen Yachthafen (an der Elbe? Am Kanal? Ich steige durch diesen Wasserstraßenkram nicht ganz durch …) hinunterzuschlendern und mir auch die Schleusen anzusehen. Eigentlich interessieren die mich gar nicht, aber da sie hier das Thema Nummer eins sind – meinetwegen.

 

Klappe auf – Schiff rein – Klappe zu – Fahrstuhl nach oben – Schiff raus. Um dies zu beobachten, versammeln sich zahlreiche Touristen in den diversen Aussichtsstationen und nehmen auch lange Wartezeiten in Kauf.

Mir bringt das nichts, und so gehe ich zu den Yachten. Die interessieren mich schon eher. Stelle ich mir gemütlich vor: Alles Notwendige dabeizuhaben, durch die Gewässer zu schippern und immer dort Halt zu machen, wo es einem gerade gefällt. Fast wie mit Rucksack - nur komfortabler.

 

Eine alte Dame setzt sich zu mir auf die Bank. Wir kommen ins Gespräch, und sie empfiehlt mir – ein Freibad! Es befindet sich genau dort, wo Kanal und Elbe in die Nordsee münden. „Sie müssen nur durch die Kleingärten und sind schon da!“

 

Eine halbe Stunde später ziehe ich dort meine Bahnen vor großartiger Kulisse! Es kommen zwar keine Traumschiffe vorbei, aber immerhin einige imposante Containerschiffe.

Jeden Tag bin ich auf dieser Tour Menschen begegnet, die solche schönen Hinweise für mich hatten – meist ungefragt. Schön!

 

Morgen fahre ich nach Sylt. Dort wartet mein großer Koffer. Noch immer komme ich mit meinen Siebensachen im Rucksack prima zurecht. Ich habe klug gepackt!

 

Vielleicht öffne ich auf Sylt den Koffer ja einfach gar nicht?